1996 ging die Verantwortung für den regionalen Schienenpersonennahverkehr vom Bund auf die Länder über. Sie erhalten dafür einen fixen Anteil aus dem Mineralölsteueraufkommen des Bundes – die so genannten Regionalisierungsmittel. Der Anteil Baden-Württembergs ist gesetzlich auf 10,4 Prozent festgelegt. Das entspricht weder dem Bevölkerungsanteil (13,1 Prozent) noch dem Anteil des Landes an den im SPNV erbrachten Personenkilometern (13,6 Prozent). Die Regionalisierungsmittel betrugen 2012 in absoluten Zahlen 739,6 Millionen Euro. Seit 2009 steigen die Mittel jährlich um 1,5 Prozent. In den Jahren zuvor hatte es zum Teil erhebliche Kürzungen gegeben. Nach wie vor liegt die Steigerung zudem unter der Kostenentwicklung für Energie, Trassen und Stationen.
Größter Anbieter im Schienenpersonenverkehr Baden-Württembergs ist die Bahntochter DB Regio. Mit ihr hat das Land 2003 einen großen Verkehrsvertrag geschlossen, der noch bis 2016 läuft. Dieser Vertrag umfasst eine Leistung von 39 Millionen Zugkilometern pro Jahr. Insgesamt fahren in Baden-Württemberg derzeit 14 Verkehrsunternehmen pro Jahr 64 Millionen Zugkilometer.
Derzeit bezahlt das Land Baden-Württemberg auf Basis des großen Verkehrsvertrages rund elf Euro an die Bahn. Der Vertrag legt fest, dass die Entgelte entsprechend der Kostenentwicklung steigen. Für die Höhe der Vergütung ist die schwarz-gelbe Vorgängerregierung oft kritisiert worden. Da die jährliche Anpassung der Regionalisierungsmittel nicht einmal die steigenden Kosten für Energie, Trassen und Stationen ausgleicht, entsteht durch die steigenden Entgelte eine strukturelle Finanzierungslücke, die 2013 60 Mio. Euro betragen hat und 2014 auf 84 Mio. Euro steigen wird. Sie wird nach beträchtlichen Anstrengungen der grün-roten Koalition aus Landesmitteln geschlossen werden. Geringere Bestellerentgelte als Folge einer Neuausschreibung sollen diese Situation zukünftig beenden.
Die Vorgängerregierung hat im Zusammenhang mit dem Projekt Stuttgart 21 eine Angebotskonzeption 2020 entwickelt. Diese setzte auf eine Ausweitung des Angebotes an Zugkilometern von 20 bis 30 Prozent sowie zusätzliche neue Fahrzeuge und höhere Kapazitäten. Diese Konzeption war jedoch nicht solide durchgerechnet und unter den jetzigen Bedingungen nicht tragfähig. Seit Jahren sinkt die Kaufkraft der vom Bund bereitgestellten Regionalisierungsmittel beständig. Grund: Die Trassen- und Stationspreise, die die bundeseigenen DB-Infrastrukturgesellschaften erheben, sind deutlich stärker gestiegen, als die Regionalisierungsmittel jährlich dynamisiert werden (1,5 Prozent pro Jahr). Insgesamt haben diese 2012 um rund 50 Mio. Euro zugenommen. Diese - durch die Renditeerwartungen des Bundes an sein Unternehmen DB verschärfte - Entwicklung wird durch die Länder stark kritisiert. Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen strebt die Landesregierung eine Angebotserweiterung um 15 bis 20 Prozent an.
Läuft ein Verkehrsvertrag aus, startet das Ministerium für Verkehr – unterstützt von der Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg – ein Wettbewerbsverfahren. Es verfolgt das Ziel, die Qualität durch verbesserte Fahrplankonzepte oder den Einsatz neuer Fahrzeuge zu steigern und gleichzeitig die Kosten zu senken. Das Ministerium definiert die Bedingungen für die Leistungen, die vom siegreichen Eisenbahnverkehrsunternehmen erbracht werden müssen, arbeitet die entsprechenden Konditionen aus und veröffentlicht das Ausschreibungsverfahren.
In acht Ausschreibungsnetzen enthaltenen insgesamt 10 Teillosen werden landesseitig komfortable Neufahrzeuge zwingend vorgeschrieben. Dies entspricht einem Volumen von über 30 Millionen Zugkilometern, die pro Jahr mit Neufahrzeugen erbracht werden.
Die Neufahrzeuge weisen eine Einstiegshöhe von 60 cm über Schienenoberkante auf, um bei einer Bahnsteighöhe von 55 cm barrierefreie, niveaugleiche Einstiege zu ermöglichen.
Im Fahrzeuglastenheft sind für die neuen Fahrzeuge u.a. zusätzlich zum üblicherweise empfohlenen Standard vorgeschrieben. Dazu gehören beispielsweise:
- Gepäckablage über den Fahrradstellplätzen Packtaschen und Helme
- Echtzeit Fahrgastinformationen in „leicht verständlicher Sprache“ (optisch/textlich und akustisch)
- WLAN zur Nutzung von Smartphones und Tablet-PCs
- Mehr Platz für Rollstühle, Fahrräder etc. in Mehrzweckabteils
- Explizite Vorgabe Weg- und Leitsystem für Sehbehinderte
- Möglichst große Ausführung der Piktogramme für Mehrzweckbereiche und Rollstuhlplätze am Zug außen bzw. für Behindertensitzplätze im Zuginneren
- Meldungen über defekte Toiletten durch eindeutige Nummerierung (Kontaktinformation zum Service kann z.B. per SMS durch den Kunden erfolgen)
- Vorgabe von Videoüberwachungen zur Sicherheit der Fahrgäste
Auch parallel zu den Vergabeverfahren ist das Ministerium aktiv, um das System SPNV zugunsten der Fahrgäste zu verbessern.
- Budgetplanung: Einigung mit MFW auf Konzeption zur künftigen Bewirtschaftung der Regionalisierungsmittel
- Stundentakt Stuttgart-Zürich in Kooperation mit der DB Fernverkehr AG
- Stufenkonzept Breisgau S-Bahn, bei dem die aufgetretenen Probleme beim Infrastrukturausbau (insbesondere Elektrifizierung) und die Betriebsaufnahmen aufeinander abgestimmt wurden und an die zur Verfügung stehenden finanziellen Budgets der Region und des Landes angepasst wurden.
Beteiligungsverfahren:
- Einrichtung eines landesweiten Fahrgastbeirates, der sich auch bei der Gestaltung der Vergabeverfahren einbringt.
- Abstimmung einer Angebotskonzeption zum SPNV-Angebot am Oberrhein
Je höher die Auftragssumme, umso aufwändiger muss die öffentliche Hand ihr Vergabeverfahren gestalten. Möglichst viele Bieter sollen sich beteiligen und gründlich vorbereiten können. Verkehrsverträge müssen aufgrund ihres hohen Volumens grundsätzlich europaweit ausgeschrieben werden. Ankündigung, Veröffentlichung und Einholung der Angebote benötigen aufgrund vorgegebener Fristen ungefähr ein Jahr Zeit, mit mindestens einem weiteren halben Jahr muss man für die Auswertung und Vergabe der Angebote rechnen. Zuzüglich eventueller Einspruchsverfahren unterlegener Mitbewerber kann der siegreiche Anbieter dann die Züge bestellen. Aufgrund z.T. langer Lieferfristen benötigt dies ebenfalls mehrere Jahre Vorlaufzeit. Eine Übersicht über die auszuschreibenden Schienennetze finden Sie in der beigefügten Übersicht.
Die Vergabekonzeption zielt darauf ab, dass alle potentiellen Anbieter die gleichen Chancen haben, den Fahrgästen ein attraktives Angebot zu machen. Das Land leistet seinen Beitrag, indem es die zur Ausschreibung anstehenden Netze konzeptionell optimiert und den Wettbewerb zeitlich staffelt. So können sich auch kleinere Anbieter an möglichst vielen Verfahren beteiligen. Darüber hinaus gibt das Land Kapitaldienstgarantien für die Fahrzeugfinanzierung. Diese ermöglichen es Anbietern, Mittel für die hohen Investitionen in neues Wagenmaterial auf dem Kapitalmarkt günstig zu erhalten. Bei komplexen Netzen mit einem Investitionsvolumen von mehr als 100 Mio. Euro kommt zusätzlich das so genannte VRR-Modell zur Anwendung. Dabei gehen die Fahrzeuge in das Eigentum des Landes über: Unternehmen bestellen die Züge, das Land kauft sie ihnen ab und verpachtet sie zurück. So haben auch kleinere Anbieter vergleichbare Finanzierungskosten und damit vergleichbare Startchancen wie der Staatskonzern Deutsche Bahn AG.
Weitere Informationen: detaillierte Beschreibung der Förderinstrumente der Fahrzeugfinanzierung
Die Herausforderungen bei der Neuvergabe sind groß: In allen Bundesländern verzögern sich die Vergaben aufgrund der sich deutlich verschlechternden Randbedingungen:
- Der sich wandelnde Bietermarkt erfordert wesentlich komplexere Vergaben.
- Die aufgehende Finanzierungsschere zwischen Regionalisierungsmitteln und Kostenentwicklung bei den Tochterunternehmen der Deutschen Bahn AG (DB Netz und DB Station & Service) erfordert laufende Anpassungen an den Angebotskonzeptionen.
- Ungeklärte Finanzierungsfragen, etwa: In welcher Höhe wird Baden-Württemberg Regionalisierungsmittel nach der Revision erhalten?
In Baden-Württemberg ist die Situation besonders komplex: Der große Verkehrsvertrag mit der DB Regio endet am 30. September 2016. Der große Verkehrsvertrag entspricht 60 Prozent der bestellten Zugkilometer im SPNV in Baden-Württemberg (ohne die S-Bahn Stuttgart). Das sind knapp 40 Millionen Zugkilometer. Diese Menge ist für erfolgreiche Wettbewerbsverfahren innerhalb eines engen Zeitrahmens deutlich zu groß. Erforderlich wäre eine Überführung von 3-5 Millionen Zugkilometer pro Jahr in den Wettbewerb, also eine kontinuierliche Reduzierung der Leistungen im großen Verkehrsvertrag. Das „ungestaffelte“ Auslaufen des großen Verkehrsvertrages ist eine besondere Herausforderung: Eine solche Vergabewelle hatte noch kein Bundesland zu bewältigen.
2012 hat sich gezeigt, dass die in früheren Jahren vorbereiteten Angebotskonzeptionen im vorgegebenen Finanzrahmen der Regionalisierungsmittel nicht umsetzbar sind. Deshalb musste nachjustiert werden. Mit Hilfe von externem Sachverstand hat das Ministerium den Finanzbedarf der einzelnen Vergabenetze durchgerechnet. Grundlage ist ein einheitlicher Standard für die Schiene – bei vergleichbaren Rahmenbedingungen soll es ein vergleichbares Angebot für die Bürgerinnen und Bürger geben. Das betrifft vor allem den Fahrplantakt und die Ausstattung der Fahrzeuge. Um auch kleineren Unternehmen eine Teilnahme am Wettbewerb zu ermöglichen, werden die Ausschreibungen zeitlich entzerrt werden.
Bei der Neuvergabe verfolgt das VM das Ziel, möglichst schnell Wettbewerbsrenditen zu erzielen, um Spielräume für eine Ausweitung der Leistungen zu erhalten und frühzeitig Verbesserungen für die Fahrgäste zu erreichen. Die Anordnung der Teilnetze und Lose im Vergabekalender orientiert sich an unterschiedlichen Kriterien, die abgewogen werden müssen:
- Erwartete Vergabegewinne/-verluste. Die Netze, bei denen mit deutlichen Wettbewerbsrenditen zu rechnen ist, müssen möglichst schnell in den Wettbewerb gehen.
- Gutes Preis-Leistungs-Verhältnis im Status quo bei unbefristetem Vertrag. Laufen Verträge unbefristet, können sie ggf. fortbestehen, solange das Preis-Leistungs-Verhältnis akzeptabel ist. Dies ist bei einigen bereits im Wettbewerb vergebenen Verträgen über bestimmte Netze der Fall. Leistungen des großen Verkehrsvertrags fallen nicht darunter.
- Rüstzeit der Fahrzeugbeschaffung. Die Spanne zwischen Zuschlag und Betriebsaufnahme muss so bemessen sein, dass Fahrzeuge mit hinreichendem Vorlauf beschafft werden können.
- Ablösung alten Fahrzeugmaterials. Neben monetären gibt es auch qualitative Vergabegewinne in den Augen des Fahrgastes, z.B. in Form von Neufahrzeugen.
- Ressourcenverfügbarkeit der Bieter. Bei zu großer bundesweiter oder landesinterner Ballung der Verfahren läuft das Land Gefahr, nur wenige oder keine Bieter in bestimmten Verfahren anziehen zu können. Über die Landesgrenzen hinaus ist dies allerdings praktisch nicht beeinflussbar. Bei den verschiedenen großen Verfahren im Land bietet sich eine Entzerrungsstrategie an.
- Ressourcenverfügbarkeit der Vergabestelle. Die Vergabestelle muss in der Lage sein, die aufwändigen Verfahren qualitativ wie quantitativ zu bewältigen.
- Infrastrukturrisiken wie ungesicherte Fertigstellungstermine von Strecken, Elektrifizierungen (z. B. Südbahn, Hochrhein, Breisgau-S-Bahn) oder bei Stuttgart 21/Neubaustrecke Wendlingen-Ulm gehen mit erheblichen Risiken für den Bieter einher. Die Erfahrung zeigt, dass diese fast immer gemieden werden. Demnach ist im Einzelfall zu erwägen, eine Vergabe so lange zu verschieben, bis das Risiko eingrenzbar ist.
Wegen des großen Volumens der zu vergebenden SPNV-Leistungen können nicht alle auslaufenden Leistungen bereits zum Fahrplanwechsel 2016 in den Wettbewerb überführt werden. Es werden daher Übergangsverträge erforderlich werden. Sie umfassen ca. 30 Mio. Zug-Kilometer in 2017 und ca. 10 Mio. Zug-Kilometer in 2018.
Das Ministerium geht von hohen Vergabegewinnen und Zuschussminderungen aus. Die durchgeführten Berechnungen machen deutlich, dass der heutige Preis in allen Teilnetzen des großen Verkehrsvertrags zu hoch ausfällt. Bei den wirtschaftlich lukrativsten Netzen sind Vergabegewinne von mehr als 4 Euro je Zugkilometer zu erwarten.