Für die Neuerfindung des Autos plädieren Winfried Kretschmann und Winfried Hermann.
Die Automobilindustrie durchlebt gerade den tiefsten Umbruch ihrer Geschichte. Alles, was in den letzten Jahrzehnten selbstverständlich war, wird auf den Prüfstand gestellt und neu durchdacht. Das Automobil mit Verbrennungsmotor, von Carl Benz vor 130 Jahren zum Patent angemeldet, wird noch einmal neu erfunden. Dies könnte die Verhältnisse auf den Straßen der Welt komplett verändern.
Die Richtung dieser Entwicklung ist heute schon absehbar: Das Auto der Zukunft wird emissionsfrei und auch autonom fahren. Die Kreuzung dieser beiden Punkte wird das Automobil neu definieren. Es wird zum Bestandteil eines digital vernetzten Mobilitätssystems, in dem die Übergänge zu ÖPNV, Taxis, Carsharing oder Leihfahrrädern fließend werden.
Wir bewegen uns auf einen echten Systemwechsel zu, einschließlich einer grundlegenden Verschiebung der Nachfrage und Bedürfnisse der Kunden. Es geht um neue Geschäftsmodelle, die von den Automobilunternehmen verlangen, sich zu Mobilitätsanbietern zu entwickeln.
Für unser Land ist dieser Wandel eine große Chance. Wir können nicht nur einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, das Klima zu schützen, den Verkehr sicherer zu machen und Staus aufzulösen. Unsere Unternehmen bringen auch alles dafür mit, um weiterhin Technologieführer zu bleiben.
Aber seien wir ehrlich: Es ist auch eine gewaltige Herausforderung. Noch sind wir vom Verkauf und Export des Autos mit Verbrennungsmotor, fossilen Kraftstoffen und Fahrer abhängig. Der Wandel ist disruptiv und muss "im vollen Lauf" vollzogen werden. Es geht um Hunderttausende Arbeitsplätze, und es geht um den Wohlstand ganzer Regionen. Die Sache ist ernst, das muss allen klar sein.
Enormer Handlungsdruck Unsere Automobilhersteller haben die Herausforderung erkannt. Sie erkunden neue Geschäftsfelder und bieten Schritt für Schritt nicht mehr nur Automobile, sondern, Beispiel Car2go, auch Mobilität an. Und sie erhöhen den Anteil von Elektroautos.
Dieter Zetsche hält bereits bis zum Jahr 2025 einen Anteil der Elektroautos an allen von der Daimler AG weltweit verkauften Modellen von 15 bis 25 Prozent für realistisch, VW-Chef Müller rechnet bis zu diesem Zeitpunkt mit einer Million E-Autos.
Allerdings ist der Handlungsdruck auch enorm. Im Westen wird die Automobilbranche von neuen, starken Wettbewerbern wie Uber, Apple, Google oder Tesla herausgefordert. Im Osten vollzieht China als eines unserer wichtigsten Exportländer eine industriepolitische Wende und kündigt an, ab 2018 eine Quote für den Anteil von Elektroautos am Gesamtmarkt vorzuschreiben.
Hinzu kommt eine wahrhafte Menschheitsfrage: der Kampf gegen den Klimawandel. Im letzten Jahr haben in Paris 195 Staaten ein Klimaabkommen beschlossen, das die Erderwärmung auf weniger als zwei Grad begrenzen soll. Die Staatengemeinschaft hat vereinbart, bis spätestens 2050 vollständig aus der Verbrennung von Kohle, Öl und Gas auszusteigen. Das Ende des fossilen Zeitalters wurde damit global eingeleitet - auch im Verkehr. Denn der Verkehr ist für einen großen Teil des klimaschädlichen CO2 verantwortlich.
Bei uns in Baden-Württemberg ist es rund ein Drittel, also ein größerer Anteil als der des Industrie- oder Energiesektors. Wenn die im Klimaabkommen festgelegten Ziele erreicht werden sollen, brauchen wir in naher Zukunft emissionsfreie Antriebe und darüber hinaus ein klima- neutrales Mobilitätssystem.
Doch die Automobilhersteller werden den bevorstehenden Wandel nicht allein schaffen. Aufgabe der Politik ist es, den Transformationsprozess zu unterstützen und mit der Hilfe von klaren ökologischen Leitplanken zu beschleunigen. Dazu brauchen wir eine Roadmap, die Ziele und Zwischenziele definiert und für Planungssicherheit sorgt. Dabei ist klar: Eine gute Wirtschafts- und Umweltpolitik darf nicht strangulieren, sie muss stimulieren.
Energie aus regenerativen Quellen Kann uns in diesem Zusammenhang das Ziel weiterhelfen, ab 2030 nur noch emissionsfreie Fahrzeuge zuzulassen, wie es gegenwärtig unsere Partei, die Grünen, aber auch die Länder im Bundesrat diskutieren?
Zweifellos ist das ein wichtiger Weckruf, und er hat eine dringend erforderliche Debatte angestoßen. Denn Deutschland hat Nachholbedarf. In Norwegen haben Elektroautos inklusive sogenannter Plug-in-Hybride bei den Neuzulassungen inzwischen einen Marktanteil von knapp 30 Prozent. In Deutschland ist es weniger als ein Prozent.
In Europa werden von den Niederlanden bis Österreich gesetzliche Auslaufdaten für Verbrennungsmotoren auf fossiler Basis diskutiert. Diese Debatte muss auch in Deutschland geführt werden. Ob wir das Ziel ein paar Jahre früher oder später erreichen, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass wir es rechtzeitig erreichen.
Deshalb ist es richtig, dass wir Grüne uns dafür stark machen, die notwendigen Rahmenbedingungen und die Infrastruktur für eine emissionsfreie Mobilität zu schaffen. Denn eines ist klar: Die 30er-Jahre dieses Jahrhunderts müssen den Durchbruch zu klimaverträglicher Mobilität bringen. Bis dahin liegen noch große Aufgaben vor uns. Wir müssen gewährleisten, dass die Energie für die alternativen Antriebe auch aus regenerativen Quellen kommt. Dem Klima ist nicht geholfen, wenn Elektroautos mit dreckigem Kohlestrom fahren. Die Verkehrswende muss zusammen mit der Energiewende gedacht und umgesetzt werden.
Außerdem müssen wir die für die Markteinführungsphase notwendige Ladeinfrastruktur schaffen. Und wir brauchen steuerliche Anreize, damit verbrauchsarme Antriebstechnologien und Elektromobilität einschließlich Brennstoffzellentechnologie sich so schnell wie möglich auf dem Markt durchsetzen können. Darüber hinaus sind ambitionierte CO2 - Grenzwerte auf EU-Ebene notwendig.
Damit die Entwicklung wettbewerbs- und technologieneutral abläuft, müssen die CO2 - Werte kontinuierlich in planbaren Fünf- bis Sieben-Jahres-Schritten abgesenkt werden. Die Industrie muss strategisch entscheiden, ab wann sie konsequent in die Entwicklung neuer Antriebe wie Elektroautos und Brennstoffzellenfahrzeuge investiert, anstatt weiter mit viel Aufwand und Kosten den herkömmlichen Verbrennungsmotor zu optimieren. Politik und Wirtschaft brauchen eine Strategie der Transformation, die für alle - Produzenten wie Konsumenten - kalkulierbar ist.
Wir wollen deshalb in Deutschland einen strategischen Dialog mit der Automobilindustrie, der Wissenschaft, den Kommunen und der Zivilgesellschaft anstoßen, wie dies bereits im Rahmen des Beirats der baden-württembergischen Landesregierung für nachhaltige Entwicklung begonnen wurde.
Strategischer Dialog Gemeinsam müssen wir diskutieren und Wege entwickeln, wie wir das ehrgeizige Ziel emissionsfreier Mobilität mit klimaneutralen Antrieben 2030ff erreichen können, welche Maßnahmen hierzu bis wann umgesetzt werden müssen, was Forschung und Wirtschaft sowie Politik und Gesellschaft dazu beitragen können. Auch Zwischenziele müssen klar definiert werden.
Sicher werden das harte Auseinandersetzungen; Dialog kann nicht heißen, nur das zu tun, was die Industrie oder Interessengruppen möchten. Und nicht alles, was die Politik auf den Tisch legt, wird der Wirtschaft oder der Gesellschaft gefallen.
Es ist vornehmste Aufgabe der Politik, interessenübergreifend für die Zukunftsfähigkeit des Landes zu sorgen und nachhaltige Mobilität auch global sicherzustellen. Denn letztlich haben wir dieselben Ziele: Wir wollen das Zwei-Grad-Ziel schaffen, unsere elementaren Lebensgrundlagen erhalten und unseren Wohlstand dauerhaft sichern. Und wir wollen uns bei dem Weg zu einem neuen Mobilitätszeitalter an die Spitze setzen.
So wird es uns gelingen, ein neues Fundament zu schaffen - für die Automobilindustrie, für zukunftsfähige Arbeitsplätze, für nachhaltigen Wohlstand und nachhaltig funktionierende Mobilität in unserem Land und darüber hinaus.
Quelle:
Handelsblatt print: Nr. 217 vom 09.11.2016 Seite 056 / Gastkommentar "Die Wende im Verkehr kommt!" von Winfried Kretschmann und Winfried Hermann © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten.