Baden-Württemberg soll bis 2040 klimaneutral werden. Um dieses Ziel zu erreichen, sollen die Fahrgastzahlen im öffentlichen Verkehr bis 2030 verdoppelt werden. Dafür muss der ÖPNV massiven ausgebaut werden. Das Kabinett hat jetzt einen Strategieentwurf mit verschiedenen Maßnahmen beschlossen.
Bis 2040 soll Baden-Württemberg klimaneutral werden. Ein wichtiger Baustein dafür ist die Verdoppelung der Fahrgastzahlen im öffentlichen Verkehr bis 2030. „Baden-Württemberg bekennt sich zum Klimaschutz. Wir wollen das führende Klimaschutzland werden. Wir wollen zeigen, was machbar ist, und Maßstäbe setzen. Im Klimaschutzgesetz haben wir ein klares Ziel verankert: Bis 2040 wollen wir in Baden-Württemberg volle Klimaneutralität erreichen. Zum Klimaschutz gehört auch eine neue, nachhaltige Mobilität – auch hier wollen wir Baden-Württemberg zum Vorreiter machen. Dazu müssen wir unter anderem die Nachfrage im öffentlichen Nahverkehr bis 2030 verdoppeln“, betonte der stellvertretende Ministerpräsident Thomas Strobl am Dienstag (12. Oktober 2021) in Stuttgart. Zuvor hatte das Kabinett den Entwurf für die ÖPNV-Strategie 2030 zur Anhörung freigegeben.
130 Maßnahmen für attraktiveren ÖPNV
Insgesamt umfasst die ÖPNV-Strategie 2030 mehr als 130 Maßnahmen in zehn relevanten Handlungsfeldern des öffentlichen Verkehrs. Die zehn Handlungsfelder umfassen: Leistungsangebot, vernetzte Mobilität, Vorrang für den ÖPNV, Infrastruktur, Betrieb sowie Qualität und Fahrzeuge, Tarif und Vertrieb, Kommunikation und Mobilitätskultur, Rechts- und Finanzierungsrahmen, Organisation und Strukturen. Die ÖPNV-Strategie 2030 greift damit die im Januar 2021 vorgelegten Empfehlungen der im Land eingesetzten ÖPNV-Zukunftskommission auf. „Deshalb erarbeitet das Land aktuell gemeinsam mit den ÖPNV-Akteuren, zu denen auch die Kommunen gehören, die ÖPNV-Strategie 2030“, ergänzte Strobl.
Mobilitätsgarantie als zentrale Maßnahme
Eine der zentralen Maßnahmen des Strategieentwurfs ist die Mobilitätsgarantie im ÖPNV. Verkehrsminister Winfried Hermann sagte: „Der flächendeckende und massive Ausbau des ÖPNV-Angebots durch spürbare Fahrplan- und Taktverdichtungen ist ein wesentlicher Hebel zur Verdoppelung des ÖPNV. Mit der Mobilitätsgarantie als verlässliches Angebot im öffentlichen Verkehr von 5 bis 24 Uhr wollen wir sowohl im städtischen als auch im ländlichen Raum den ÖPNV als attraktives Angebot aufwerten und damit einen deutlichen Anreiz zum Umstieg vom Auto auf Bus und Bahn setzen. Bis 2026 müssen wir sicherstellen, dass man mit Bus und Bahn zuverlässig und nachhaltig unterwegs sein kann – im Ballungsraum mindestens alle 15 Minuten und im ländlichen Raum mindestens alle 30 Minuten.“
In einer ersten Stufe soll die Mobilitätsgarantie bis 2026 innerhalb der Hauptverkehrszeit umgesetzt werden. Im Koalitionsvertrag bekennt sich die Landesregierung dazu, sich mit zusätzlichen Landesmitteln an der Finanzierung der ÖPNV-Offensive zu beteiligen. Die Verkehrsministerinnen und Verkehrsminister der Länder haben ebenfalls bereits im Juni 2021 den Bund einstimmig aufgefordert, bis 2030 jährlich zusätzlich 1,5 Milliarden Euro für den Ausbau des ÖPNV bereitzustellen. „Nur so kann der ÖPNV als Rückgrat der nachhaltigen Mobilität im erforderlichen Maß für den Klimaschutz gestärkt werden“, so Hermann.
Kommunen können Mobilitätspass anbieten
Alle zuständigen Akteure müssten sich stärker an der Finanzierung zur Stärkung des ÖPNV beteiligen. Den Kommunen werde die Landesregierung daher auch das Instrument des Mobilitätspasses anbieten. Er soll Kommunen, Landkreisen und Kommunalzusammenschlüssen die Möglichkeit bieten, zusätzliche Mittel für den massiven Ausbau des ÖPNV einzunehmen und Anreize zu setzen, um die Straßen in den Städten und Gemeinden vom Autoverkehr zu entlasten. Die Einführung des Mobilitätspasses steht als wichtige Maßnahme im Entwurf der ÖPNV-Strategie 2030. Gemeinsam mit ausgewählten Landkreisen und Kommunen als Pionierregionen soll in den nächsten Monaten die Umsetzung des Mobilitätspasses und der Mobilitätsgarantie partnerschaftlich vorbereitet werden. Dazu hat das Verkehrsministerium bereits im August 2021 einen Bewerbungsaufruf über den Landkreistag und den Städtetag versandt. Bis Ende Oktober 2021 haben die interessierten Kommunen Zeit, sich beim Verkehrsministerium um eine Teilnahme als Pionierregion zu bewerben. In den nächsten Wochen haben die Verbände und zuständigen Akteure nun Zeit, ihre Stellungnahmen zum Entwurf der ÖPNV-Strategie 2030 beim Verkehrsministerium einzubringen. Darüber hinaus finden Informationsveranstaltungen in den vier Regierungsbezirken Baden-Württembergs statt, um den vor Ort im ÖPNV aktiven Akteuren eine Möglichkeit für Fragen und Anregungen zum Anhörungsprozess zu geben. Danach wird der Entwurf mit den Stellungnahmen erneut vom Ministerrat beraten. 2022 soll der Umsetzungsprozess beginnen.
In drei Schritten zur ÖPNV-Strategie 2030
In drei Phasen erarbeitet das Ministerium für Verkehr gemeinsam mit den ÖPNV-Akteurinnen und Akteuren im Land die ÖPNV-Strategie 2030 mit dem Ziel, die Verdoppelung der Fahrgastnachfrage bis 2030 maßgeblich zu unterstützen.
In einer ersten Phase zwischen Juli und Dezember 2020 hat die ÖPNV-Zukunftskommission, bestehend aus 20 Vertreterinnen und Vertretern der Aufgabenträger, der Stadt- und Landkreise, der Verkehrsunternehmen, der Verkehrsverbünde, des Fahrgastbeirats, der Gewerkschaften und der Wissenschaft konkrete Teilziele sowie vielfältige und weitreichende Empfehlungen in zehn relevanten Handlungsfeldern des ÖPNV im Konsens formuliert und über alle Handlungsfelder hinweg insgesamt 130 konkrete Einzelmaßnahmen gelistet, die den ÖPNV in Baden-Württemberg bis 2030 maßgeblich stärken können. Diese wurden im Januar 2021 öffentlich vorgestellt und diskutiert und bildeten das zentrale Rückgrat für die weitere Ausarbeitung der ÖPNV-Strategie 2030.
Aktuell befindet sich die Erarbeitung der Strategie in der zweiten Phase. Mit dem Kabinettsbeschluss am 12. Oktober 2021 startet nun ein extensiver Anhörungsprozess zum Entwurf. Als Expertengremium werden erneut die Mitglieder der ÖPNV-Zukunftskommission eingebunden. Darüber hinaus finden im Oktober 2021 Informationsveranstaltungen auf Ebene der vier Regierungsbezirke Baden-Württembergs statt. Daran schließt sich dann die eigentliche schriftliche Anhörung an. Im Nachgang wird die Strategie nochmals überarbeitet und final dem Kabinett zur Beschlussfassung vorgelegt.
In der dritten und letzten Phase des Strategieprozesses startet im Frühjahr 2022 deren Umsetzung mit einer Auftaktveranstaltung. Darauf aufbauend werden Gespräche mit den ÖPNV-Akteuren vor Ort geführt, um zu erörtern, wie die Umsetzung der ÖPNV-Strategie 2030 vor Ort konkret angegangen und gewährleistet werden kann.
Beispiele zu Kernmaßnahmen der ÖPNV-Strategie 2030
Bis 2026 sollen Busse und Bahnen in den Hauptverkehrszeiten des Berufsverkehrs im 15-Minuten-Takt in Ballungsräumen und in ländlichen Räumen im 30-Minuten-Takt zu den Hauptverkehrszeiten jeden Ort anbinden. Einige Landkreise in Baden-Württemberg arbeiten hier bereits vorbildlich an der Umsetzung hoher Erreichbarkeiten von früh bis spät: Der Landkreis Tübingen strebt beispielsweise im Rahmen der aktuellen Teilfortschreibung seines Nahverkehrsplans grundsätzlich einen 30-Minuten-Takt und im Verdichtungsraum außerhalb der Schwachlastzeiten einen 15-Minuten-Takt an. Auch das Land arbeitet als Aufgabenträger im Schienenpersonennahverkehr auf eine deutliche Angebotsausweitung hin. Dazu wird das Land ein Zielkonzept 2030 erarbeiten, mit einem 15-Minuten-Takt im Verdichtungsraum und einem 30 Minuten-Takt im ländlichen Raum.
Nicht nur die klassischen Linienverkehre – sondern in Zeiten und in Räumen mit schwacher Verkehrsnachfrage sind gerade auch die Kombination dieser mit flexiblen Bedienformen wichtig und sollen den Angebotsausbau im ÖPNV signifikant voranbringen. Mit flexiblen Bedienformen sind all jene öffentlichen Verkehrsträger gemeint, die nicht nach dem klassischen Linienfahrplan fahren, sondern bei Bedarf und auf Abruf Fahrgäste transportieren („on demand“). Dies kann entweder nach Vorbestellung per App/Handy oder telefonisch erfolgen und einer bestimmten Linie zu bestimmten Zeiten folgen oder haltestellenlos per Routing die Fahrgäste je nach Fahrtwunsch einsammeln. Aktuell unterstützt das Land fünf Pilotregionen beim Ausbau des „on-demand“-Verkehrs, um bessere Takte gerade im ländlichen Raum zu erlangen. Mit einem Förderprogramm „Innovationsoffensive öffentliche Mobilität“ soll ein landesweites Grundangebot im ÖPNV von frühmorgens bis spätabends im Stundentakt verwirklicht werden. Die ausgewählten Landkreise Breisgau-Hochschwarzwald, Emmendingen, Freudenstadt, Schwäbisch Hall sowie der Alb-Donau-Kreis werden nun für die Dauer von fünf Jahren durch das Verkehrsministerium mit bis zu maximal 1,8 Millionen Euro unterstützt. Die Buchung muss per App erfolgen und der Zugang zu den Fahrzeugen barrierefrei sein.
Gerade im Bereich des Ticketings und Vertriebs kann sich der ÖPNV den Megatrend Digitalisierung zunutze machen – und tut dies in Baden-Württemberg auch bereits. Ein Beispiel ist die Entwicklung und Einführung eines App-basierten E-Ticket-Systems, mit dem Fahrgäste zukünftig durch eine Check-in/Check-out-Option den ÖPNV komfortabel nutzen können. Eine passgenaue Start-Ziel-Erfassung berechnet den günstigsten Tarif. Das System wird auf Basis von Check-in/Check-out funktionieren. Das heißt der Fahrgast meldet sich zu Beginn der Fahrt mittels einer App an, zum Beispiel, wenn er in eine S-Bahn steigt (Check-in). Anschließend fährt er zum Zielort, das ist mit allen öffentlichen Verkehrsmitteln möglich. Hat der Fahrgast sein Ziel erreicht, meldet er sich in der App ab (Check-out). Im ersten Schritt wird dann anhand der Fahrten pro Tag der Tages-Best-Preis ermittelt. Perspektivisch soll die Best-Preis-Abrechnung auf einen längeren Zeitraum ausgedehnt werden, wodurch Zeitkarten miteinbezogen werden können.
Unter Preis-Leistung ist zu verstehen, dass ÖPNV-Fahrgäste mit dem Gefühl unterwegs sind, gute Verkehrsleistungen für den bezahlten Tarif zu bekommen. Baden-Württemberg verbessert das Preis-Leistungsverhältnis an den beiden möglichen Stellschrauben: (a) am Angebot, in dem es ausgebaut wird und (b) an den Tarifen, in dem sie günstiger und verständlicher werden. So hatte beispielsweise der VVS erfolgreich und mit Förderungen des Landes im April 2019 eine Tarifzonenreform durchgeführt und die Tarifzonen reduziert sowie die Tarife deutlich vergünstigt.
Tariflich ist beispielsweise die Maßnahme geplant, dass der Ausbau von Preisvergünstigungen für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, als Anreiz für die Entwicklung nachhaltiger Mobilitätsmuster und eine dauerhafte Nutzung des ÖPNV schon kurzfristig zur Umsetzung kommen sollte. Mit finanzieller Unterstützung des Landes wird die Einführung eines attraktiven Schüler-, Auszubildenden-, Studierenden-, und Jugendtickets zum Preis von 365 Euro pro Jahr mit landesweiter Fahrtmöglichkeit angestrebt.
Mit der Etablierung der RadKULTUR hat Baden-Württemberg gezeigt, dass nachhaltige Verkehrsmittel mit positivem Image versehen werden können, der Wiedererkennungswert und auch die damit verbundenen positiven Assoziationen gestärkt werden. Der angestrebte, signifikante Angebotsausbau (siehe Kernmaßnahmen 1 und 2) sowie die Attraktivitätssteigerungen durch entsprechende Tarife (siehe Kernmaßnahme 3) sollten flankierend positiv und proaktiv beworben werden. Die bereits existente landesweite Mobilitätsmarke „bwegt“ kann sich mit gezielten Kommunikations- und Marketingkampagnen noch weiter zu einer starken Marke entwickeln. Hierzu wird das Land im Rahmen der Umsetzung der ÖPNV-Strategie 2030 gezielt und gemeinsam mit den Akteuren einschlägige Kampagnen konzipieren, die darauf hinarbeiten, ein positives Identifikationsgefühl bei Fahrgästen – und solchen, die es noch werden sollen – herbeizuführen. Damit soll insgesamt eine echte ÖPNV-Kultur in Baden-Württemberg geschaffen werden.