In einer repräsentativen Umfrage von TNS Infratest unter der wahlberechtigten Bevölkerung in Baden-Württemberg (1.000 Interviews) ist die Zerrissenheit der Bevölkerung und ihr Wunsch nach Kompromisslösungen zu Stuttgart 21 zugleich erkennbar. Konfrontation, Erschöpfung und Friedenssehnsucht sind näher beieinander als manche wahrhaben wollen.
Im Vergleich mit zurückliegenden Umfragen hat sich die knappe Mehrheit für Stuttgart 21 auch nach dem Stresstest bestätigt. 50 Prozent der Befragten befürworten des Projekt, 35 Prozent sind dagegen, 15 Prozent können es nicht beurteilen oder wissen es nicht. Im Großraum Stuttgart sind sogar 58 Prozent für Stuttgart 21 und 32 Prozent gegenteiliger Auffassung. Konsequenterweise wollen 59 Prozent den Weiterbau von Stuttgart 21 und 31 Prozent den Ausstieg. und ganz eindeutig ist: Die Befragten wollen, dass alle Bürgerinnen und Bürger des Landes über das Projekt abstimmen und nicht nur die Menschen im Großraum Stuttgart.
Gleichzeitig ist das Drängen auf möglicherweise tragfähige Kompromisslösungen unübersehbar. Die Interviewer hatten gefragt: "Der Schlichter Heiner Geißler hat nun einen Kompromiss-Vorschlag vorgelegt: Danach soll der Kopfbahnhof verkleinert und für den Regionalverkehr erhalten und ein neuer Tiefbahnhof mit nur noch 4 Gleisen für den Fernverkehr gebaut werden. Nach Schätzungen könnten die Kosten von 4,1 Milliarden auf 2,5 bis 3 Milliarden gesenkt werden. Befürworten Sie diesen Vorschlag oder lehnen Sie ihn ab?"
51 Prozent der Befragten befürworten den Vorschlag, 36 Prozent lehnen ihn ab. Unter den SPD-Sympathisanten (58:37) und bei Grünen-Sympathisanten (53:33) ist das Votum sehr positiv, aber selbst bei CDU-Sympathisanten (44:42) und FDP-Sympathisanten (44:42) ergibt sich eine knappe Mehrheit für den Geißler-Vorschlag.
Geradezu drängend ist der Befund darüber, was mit dem Geißler-Vorschlag zu tun ist. Zur Frage, ob der Vorschlag von Bundesregierung, Bahn, Landesregierung, Stadt Stuttgart und Projektgegnern ernsthaft verhandelt werden sollte, votieren 69 Prozent für und 26 Prozent gegen ernsthafte Verhandlungen. Fast sensationell ist dieses Ergebnis insofern, als dieser Aushandlungsprozess von allen Befragten mehrheitlich gefordert wird: Von den Menschen ob jung, mittelalt oder alt, von Frauen mehr als Männern, von allen Schichten der Bevölkerung und egal ob in Stuttgart, Waldshut, Freiburg oder Karlsruhe.
Überwältigend ist der parteiübergreifende Konsens: Alle Parteisympathisanten von links bis konservativ wollen mehrheitlich eine ernsthafte Würdigung des Geißler-Vorschlags, selbst die CDU-Anhänger. Alle wollen den Mühlstein Stuttgart 21 irgendwie mit Anstand vom Halse haben.
In einer solchen Situation kann man dem erfahrenen Katholiken und Politiker Kretschmann nur raten, alle Beteiligten für drei Tage in das Kloster Maulbronn einzuladen, den plausiblen Wünschen der Bevölkerung zu folgen und den Wein erst dann auszuschenken, wenn die weiße Rauchfahne eines Kompromisses aufsteigt. Das wäre ein qualitatives Zeichen der Demokratie des Gehörtwerdens. Der Koalitionspartner Nils Schmid könnte mit dem Rückhalt seiner SPD-Sympathisanten mitziehen. Die Bahn hat sich mit Kefer und Grube noch nicht auf ein endgültiges Nein zum Geißler-Vorschlag festgelegt. Beide werden es vermeiden wollen, zu den Buh-Männern der Nation zu werden. Die Bundeskanzlerin hat das doppelt listige Geschenk von Geißler noch nicht erkennbar verstanden: In Stuttgart Frieden zu stiften und eine prinzipienfeste Machtoption für Schwarz-Grün möglich zu machen. Verstanden haben die Baden-Württemberger: Dass sie alles können - auch Kompromisse.
Gez.
Prof. Peter Grottian
Quelle:
Ministerium für Verkehr und Infrastruktur Baden-Württemberg